Archivale des Monats

„Geduld ist die Devise“ – zwei Korrespondenzkarten von Helene Müller vom Jänner 1919

IM JAHR 2019 WERDEN MONATLICH ZWEI ARCHIVALIEN DES MONATS VERÖFFENTLICHT!

Nachlass Helene und Richard Müller, Nr. 6

Kurz nach Neujahr 1919 erhielt Helene Müller geborene Hinträger (* 1893) aus Gries bei Bozen endlich die ersehnte Nachricht, dass ihr Ehemann Richard Müller (* 1880) noch am Leben war und sich in einem italienischen Kriegsgefangenenlager in Norditalien befand. Nach seiner Gefangennahme Anfang November 1918 war sie über zwei Monate ohne Nachricht geblieben, was die junge Mutter, die zwei kleine Töchter zu versorgen hatte und mit ihrer Schwester die Pension Julienhof in Gries führte, schwer belastete. Zur Sorge um den Ehemann und die schwierige Versorgungslage kam nun noch der bedrückende Gedanke, dass die Italiener als feindliche Siegermacht gleich nach Unterzeichnung des Waffenstillstandsvertrags Anfang November 1918 Südtirol besetzt hatten. Für viele Südtiroler war das Kriegsende und der Einmarsch der Italiener ein Schock gewesen. Die ungläubige Bestürzung wich bald der Hoffnung, dass die Besetzung durch die Italiener lediglich Episode sein werde. So verhielt sich die Bevölkerung abwartend, das Verhältnis zu den Besatzern war in vielen Fällen latent feindselig, Hilfsangebote der Italiener, z. B. bei der Beschaffung von Lebensmitteln, wurden oft nur widerwillig angenommen.
Auch wenn die Militärverwaltung unter General Pecori-Giraldi, der Südtirol von November 1918 bis Juli 1919 unterstand, in ihren Maßnahmen insgesamt eher zurückhaltend vorging, so machten die Italiener doch von Anfang an klar, dass sie sich in Südtirol auf Dauer einrichten wollten. Auch spürte die Bevölkerung mancherlei Einschränkung durch die Besatzungsmacht, nach der Verhängung von nächtlichen Ausgangssperren, die aber bald wieder aufgehoben wurden, wurde das Land nach Norden hin völlig abgeriegelt.
Diese einschränkenden behördlichen Maßnahmen, wozu auch die Zensur der lokalen Presse gehörte, erwähnt Helene Müller in der zweiten Postkarte an ihren Ehemann und sie spricht auch an, was vermutlich viele damals dachten: „Geduld ist die Devise, ewig kann’s ja doch nicht so bleiben.“ Trotz einer gewissen Sorge um die Zukunft schwingt hier auch die Hoffnung mit, dass die Besetzung des Landes eine bloß vorübergehende sein werde, da diese Punkt 9 des 14-Punkte-Programms des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson zuwiderlaufe (A re-adjustment of the frontiers of Italy should be effected along clearly recognizable lines of nationality). Ganz sicher aber schienen Helene Müller all diese Einschränkungen plötzlich leichter erträglich zu sein und schien auch die Zukunft nicht mehr ganz so düster, wusste sie doch nun, dass ihr Ehemann noch am Leben und bei guter Gesundheit war. Es sollte aber weitere zwei Monate dauern, bis Richard Müller Ende März 1919 endlich nach Bozen zurückkehren durfte.

ep

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