Das Bild zum Vertrag

Geschichte oder nur eine Geschichte?

Das Pariser Abkommen wird häufig mit diesem Bild von Gruber und Degasperi verbunden. Das Pariser Abkommen wird häufig mit diesem Bild von Gruber und Degasperi verbunden. In Wirklichkeit wurde dieses Foto fünfeinhalb Jahre später in Rom aufgenommen, anlässlich der Unterzeichnung des italienisch-österreichischen Kulturabkommens. Von der Unterzeichnung des Pariser Abkommens gibt es keine Bilder.

Wenn ein geschichtliches Ereignis für ein bestimmtes Gebiet eine besondere Bedeutung annimmt, wird es ganz natürlich zum Gegenstand regelmäßiger Gedenkfeiern. Und damit wir uns ein solches historisches Ereignis vergegenwärtigen können, brauchen wir Abbildungen, die uns das Ereignis näher bringen, es für uns konkreter und verständlicher machen.

Im Hinblick auf die Zeitgeschichte bedeutet dies, dass wir ein Foto brauchen, das die Hauptakteure des Ereignisses darstellt und sie uns aus der weit zurückliegenden, abstrakten Vergangenheit leibhaftig vor Augen führt. Fotos sind besonders dann erforderlich, wenn es um einen so feierlichen und offiziellen Augenblick geht, wie den der Unterzeichnung eines Vertrages zwischen den Vertretern verschiedener Nationen. Auch die regelmäßigen Gedenkfeiern zum Gruber-Degasperi-Abkommen wurden von Bildern begleitet, auf denen die beiden Staatsmänner bei der Unterzeichnung des Vertrags zu sehen sind. Schade nur, dass es an jenem weit zurückliegenden 5. September 1946 – soweit bekannt – keinen einzigen Fotografen gab, der das Ereignis verewigt hätte. Dies beweist, welch geringe Bedeutung dem Abkommen zwischen Italien und Österreich damals als Medienereignis zukam, im Vergleich zu dem, was sich zur selben Zeit in der französischen Hauptstadt abspielte: die Verhandlung der Friedensverträge zwischen den Siegermächten und den Verlierern des Zweiten Weltkrieges.
In all den Jahren seit diesem zumindest für Südtirol denkwürdigen 5. September wurde das Fehlen von Bildern von der Vertragsunterzeichnung durch einige Aufnahmen kompensiert, die erst Jahre nach der Unterzeichnung gemacht wurden; auf diesen Fotos sind die beiden Politiker bei offiziellen Treffen dargestellt, die zwischen 1948 und 1952 stattgefunden haben. In vielen Fällen wurden diese Fotos mit falschen Bildunterschriften versehen, die auf das Datum der Vertragsunterzeichnung wiesen. Die Bilder wurden dazu benutzt, um den Abschluss des Pariser Vertrages bildhaft nachzustellen.
Es handelt sich hier einerseits um ein deutliches Beispiel für die Gefahr, die sich hinter der massenhaften und manchmal übermäßig leichtfertigen Verwendung von fotografischem Material verbirgt – Fotos, die sich als einzigartige Vermittler von Wissen und Emotionen, aber auch als leicht manipulierbare sowie aus ihrem Ursprungskontext herauslösbare Informationsquellen erweisen; andererseits aber auch um ein interessantes Beispiel für die nachträgliche Konstruktion von Erinnerung: Die Unterzeichnung des Pariser Vertrages wird in der Vorstellung der Allgemeinheit tatsächlich mit dem Bild eines Händedrucks zwischen Degasperi und Gruber in Verbindung gebracht, der jedoch in Wirklichkeit erst fünfeinhalb Jahre später in Rom anlässlich der Unterzeichnung des italienisch-österreichischen Kulturabkommens zustande kam.

Andrea Di Michele, Südtiroler Landesarchiv