Theoretische Grundlagen und Modelle
Die Ansätze der Mehrsprachigkeitsdidaktik und das Mehrsprachencurriculum Südtirol fußen auf konsolidierten und neueren Erkenntnissen der Mehrsprachigkeitsforschung:
Grosjean vertritt die Meinung, dass Zwei- und Mehrsprachige nicht doppelt oder mehrfach Einsprachige sind. Sie vereinen in sich nicht nur die Summe einzelner Kompetenzen in den verschiedenen Sprachen, sondern verfügen über eine eigene, mehrsprachige Kompetenz. Dies veranschaulicht er anhand eines Vergleichs aus der Welt des Sports: Zwei- und Mehrsprachigkeit als eigene Kompetenz.
“The bilingual or wholistic view of bilingualism proposes that the bilingual is an integrated whole which cannot easily be decomposed into two separate parts. The bilingual is NOT the sum of two complete or incomplete monolinguals; rather, he or she has a unique and specific linguistic configuration. The coexistence and constant interaction of the two languages in the bilingual has produced a different but complete language system. An analogy comes from the domain of track and field. The high hurdler blends two types of competencies, that of high jumping and that of sprinting. When compared individually with the sprinter or the high jumper, the hurdler meets neither level of competence, and yet when taken as a whole the hurdler is an athlete in his or her own right. No expert in track and field would ever compare a high hurdler to a sprinter or to a high jumper, even though the former blends certain characteristics of the latter two. A high hurdler is an integrated whole, a unique and specific athlete, who can attain the highest levels of world competition in the same way that the sprinter and the high jumper can. In many ways, the bilingual is like the high hurdler: an integrated whole, a unique and specific speaker-hearer, and not the sum of two complete or incomplete monolinguals.” (The bilingual as a competent but specific speaker-hearer.pdf)
Für die Praxis in Unterricht und Schule bedeutet das:
Zwei- und mehrsprachige Lernende erleben sich im Schulsystem häufig als defizitär, weil ihre Kompetenzen in den Unterrichtssprachen mit jenen von einsprachigen Lernenden verglichen werden, aber ihre mehrsprachigen Kompetenzen sowie ihre andere(n) Sprache(n) nicht in eine Bewertung einbezogen werden. Die Wahrnehmung und der Einbezug dieser Kompetenzen können hingegen den Selbstwert sowie die Lernmotivation steigern.
In seiner Interdependenzhypothese geht Cummins von der Annahme aus, dass sich die situationsgebundenen Basiskompetenzen (BICS – Basic Interpersonal Communication Skills) in Erst- und Zweitsprache unabhängig voneinander entwickeln. In Hinblick auf die Entfaltung einer kognitiven akademischen Sprachfähigkeit (CALP – Cognitive Academic Language Proficiency) hingegen kann in beiden Sprachen auf eine gemeinsame Basis zurückgegriffen werden, wie im Doppel-Eisberg-Modell dargestellt wird. Sprachgebundene Oberflächenerscheinungen (z. B. Artikulationsmuster, grammatische Regelsysteme wie die Artikel im Deutschen) können nicht einfach in eine andere Sprache übertragen werden. Zugrundeliegende mentale Prozesse (wie z. B. Strategien zum Textverständnis, das Verständnis für grammatikalische Phänomene) werden aber sehr wohl in anderen Sprachen genutzt. (Externer Link)
Für die Praxis in Unterricht und Schule bedeutet das:
Zweit- oder Fremdsprachenlerner*innen können davon profitieren, wenn im Unterricht auf Fähigkeiten und Wissen in bekannten oder zuvor gelernten Sprachen aufgebaut wird, weil sich diese Fähigkeiten auf weitere Sprachen übertragen lassen.
Auch Erfahrungen und Erlebnisse, die Lernende aus ihrer Lebenswelt/ Umgebung in die Schule mitbringen, lassen sich für den gemeinsamen Lernprozess nutzen bzw. sind eine Voraussetzung dafür, dass Lernende an die Konzepte, die mit schulischem Wissen verbunden sind, anknüpfen können. Haben Lernende mit allen Sinnen erfahren, was ein Wald in ihrem Umfeld alles bietet, dann können sie ein mentales Konzept davon aufbauen (unterer Eisberg) und auch in den neuen Unterrichtssprachen (z. B. Deutsch) den Begriff dazu erwerben und darüber sprechen und schreiben (oberer Eisberg). Dieses Modell kann auch auf den Erwerb mehrerer Sprachen übertragen werden. Wichtig ist das Anknüpfen an linguistisches und lebensweltliches Vorwissen als Grundbedingung für schulischen Erfolg; oder – falls wenig Vorwissen vorhanden ist – der gemeinsame Aufbau des „unteren Eisbergs“ als Basis für den Erwerb von schulischem Wissen.
In ihrem Dynamischen Modell der Mehrsprachigkeit (DMM) entwickeln die Autoren ein Modell für den mehrsprachigen Erwerb und den Gebrauch von Sprachen über die (Lebens)Zeit. Die Autoren gehen davon aus, dass „das mehrsprachige System ein adaptives, komplexes System ist, das zwei wesentliche Eigenschaften besitzt, nämlich die Eigenschaft der Elastizität – das System gleicht sich an, wenn in der Umgebung des Systems temporäre Veränderungen stattfinden – und jene der Plastizität, d. h. das System reagiert bei Bedingungsveränderungen mit der Entwicklung neuer Eigenschaften.“ (aus Herdina, P. und Jessner, U. (2002) A Dynamic Model of Multilingualism. Perspectives of Change in Psycholinguistics. Clevedon. Multilingual Matters. S. 138)
Das bedeutet, dass eine neu zu erlernende Sprache (bzw. ein neues Sprachsystem) bereits vorhandene Sprachsysteme beeinflusst. Und umgekehrt begünstigen die bereits vorhandenen Sprachsysteme den Prozess des Erlernens einer neuen Sprache. Alle Sprachsysteme treten sozusagen in Wechselwirkung zueinander. Das kann, aus der schulischen Perspektive gesehen, zu Interferenzen führen – nicht erwünschtem Transfer zwischen den Sprachen, die Lernende in ihrem Repertoire haben – aber auch zu positivem Transfer, wenn im Unterricht auf das Vorwissen zurückgegriffen wird.
Das DMM versucht aufzuzeigen, dass sich Sprachen über die Zeit in eine positive Richtung entwickeln, aber auch abgebaut werden oder verloren gehen können. Daher ist im DMM das Thema des Spracherhalts wichtig.
Die Sprachsysteme interagieren nicht nur miteinander, sondern auch mit persönlichen Faktoren, die den Spracherwerb beschleunigen oder hemmen können. Neben diesen können auch gesellschafts- und sprachenpolitische Faktoren einen Einfluss auf die Motivation haben, Sprachen zu erwerben. Erleben Kinder, dass ihre Familiensprachen in Schule und/oder Gesellschaft nicht erwünscht sind, so kann sich das auch auf die Motivation auswirken die Schulsprache(n)/Umgebungssprache(n) zu lernen.
Für die Praxis in Unterricht und Schule bedeutet das:
a.) Der Umgang mit mehreren Sprachen und das Vergleichen von Sprachen führt zu einem erhöhten Bewusstsein davon, wie Sprachen funktionieren und wie ähnlich oder unterschiedlich sie sind. Das kann den Spracherwerb beschleunigen.
b.) Die folgende Abbildung zeigt einige ausgewählte persönliche Faktoren, die das Erlernen einer (neuen) Sprache beeinflussen: Der bisherige Lernprozess und die Sprachfähigkeit bzw. die Einschätzung derselben (z. B. „Ich bin nicht sprachbegabt, ich habe in Englisch schon viele Probleme, Französisch wird also noch schlimmer werden“ o. ä.) wirken sich auf den Selbstwert und die wahrgenommene Kompetenz der Lernenden aus. Diese wiederum können dazu führen, dass Angst den Sprachgebrauch und das Lernen hemmt („Ich mache so viele Fehler“) oder aber die Motivation entsteht, weitere Sprachen zu lernen.
c) Auch gesellschafts- und sprachenpolitische Faktoren können einen Einfluss auf die Motivation haben, Sprachen zu erwerben und zu benutzen. Erleben Kinder, dass ihre Familiensprachen in Schule und/oder Gesellschaft nicht erwünscht sind, so kann sich das auch negativ auf die Motivation auswirken die Unterrichtssprache(n) zu lernen.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die individuellen Lernenden (oder z. B. auch Mitglieder einer Minderheitengruppe) erfahren, dass die Sprache(n), die sie bereits im Repertoire haben bzw. neu lernen, einen persönlichen Nutzen haben, also im privaten Umfeld, im zukünftigen Beruf, beim schulischen Lernen etc. eingesetzt werden.
Das jeweils individuelle Sprachenrepertoire zu stärken und zu unterstützen (siehe Modell unter „Über uns“) bedeutet also, alle diese Faktoren im Auge zu haben und den (erfolgreichen) Spracherwerb als Spiel dieser Kräfte zu verstehen und zu begleiten.
Dieses Modell verdeutlicht, welche Faktoren beim Erlernen zweiter und weiterer Fremdsprachen eine Rolle spielen. Ein zentrales Faktorenbündel für den Unterricht sind die Fremdsprachenspezifischen Faktoren. Das heißt, Lernende können beim Erwerb einer zweiten Fremdsprache auf bereits gemachte Lernerfahrungen in der ersten Fremdsprache zurückgreifen bzw. sie haben ihre L1 und ihre erste Fremdsprache zur Verfügung, um sich die Tertiärsprache anzueignen. Siehe auch:
- Mehrsprachigkeitskonzept – Tertiärsprachendidaktik – Deutsch nach Englisch
- Lernen einer zweiten oder weiterer Fremdsprachen
Für die Praxis in Unterricht und Schule bedeutet das:
Auf Wissen, Lernstrategien und Lernerfahrungen aus den davor gelernten Sprachen aufzubauen und Transfermöglichkeiten zu nutzen.
Das Gesamtsprachencurriculum (GSC), wie es von Britta Hufeisen (vergleiche z. B. More Languages? – PlurCur!) angedacht wurde, schafft einen institutionellen/schulischen Rahmen, der es Lehrenden von Sprachen und Sachfächern ermöglicht, miteinander zu kommunizieren und sprachen- sowie fächerübergreifend arbeiten zu können. Durch eine flexible Unterrichtsorganisation wird Platz für das Erlernen mehrerer Sprachen geschaffen.
Das GSC verbindet die Sprachen miteinander, fördert alle Sprachen an einer Schule, auch familiär gesprochene Sprachen und Latein, und vernetzt den Sprachen- mit dem Sachfachunterricht (CLIL-Unterricht, sprachenübergreifender Projektunterricht). Weitere wichtige Schwerpunkte sind die Unterstützung der Deutschkompetenzen (Kompetenzen in der Schulsprache) von Schülerinnen und Schülern mit anderen Erstsprachen als Deutsch sowie die Förderung von Sprachenbewusstsein. Es stellt somit einen mehrsprachigen und ganzheitlichen Ansatz des Lernens von Sprachen und Sachfächern dar.
Das GSC wird idealerweise über den gesamten Bildungsverlauf hinweg umgesetzt. Die folgende Grafik zeigt ein mögliches Beispiel:
Für die Praxis in Unterricht und Schule bedeutet das:
Die Ziele des GSC lassen sich sehr gut mit den Ausführungen zu „Sprache(n) und Mehrsprachigkeit“ an Südtiroler Schulen vereinbaren. Es sind dies u. a.:
- die vorhandene Mehrsprachigkeit der Lernenden wertschätzen, einbeziehen und weiter unterstützen
- Synergien beim Sprachenlernen nutzbar machen
- Lehrende aller Fächer für das multiple Sprachenlernen und die Bedeutung von sprachlichen Kompetenzen für den Lernerfolg zu sensibilisieren
- Sprach(en)bewusstheit und Sprach(en)lernbewusstheit sprachenübergreifend und systematisch ausbilden und fördern
- (Fremd)Sprachenlernstrategien sprachenübergreifend und systematisch auszuprobieren und anwenden lassen
- Sprachen- und Sachfachlernen verstärkt vernetzen
- Interkulturelles in alle Fächer einbinden
Detailliertere Ausführungen finden sich in Britta Hufeisens Artikel
(Externer Link)
„Trawsieithu“ (in etwa: across-language) wurde von C. Williams als Konzept für den bilingualen Unterricht (Englisch-Walisisch) in Wales entwickelt. C. Baker (2001) übersetzte den Begriff als „trans-languaging“; dieser hat in der Folge den Weg in Forschung und Praxis gefunden und wurde von verschiedenen Autor*innen für den bilingualen Unterricht in Minderheitenkontexten adaptiert (v. a. USA und GB: Ofelia García 2009; Canagarajah z. B. 2013; Blackledge & Creese 2010; Li Wei z.B. 2011, Lin A.). Ein wichtiger Aspekt des Einsatzes aller Sprachen, auch der Minderheitensprachen, ist das Empowerment der Lernenden.
Aktuelle Forschungen aus der Perspektive unterschiedlicher Disziplinen beziehen sich z. B. auf Translanguaging im Internet, unter Jugendlichen und Kindern, im Umfeld (street signage), im Hip-Hop und im pädagogischen Bereich.
Translanguaging-Perspektiven auf Sprache und Sprachverwendung
- Sprachen als „soziale Praxis“ – Blick darauf, wie Sprachen verwendet werden und zwar sowohl im Alltag als auch in Bildungsinstitutionen;
- Verwendung von Sprache(n) in der sozialen Interaktion als Prozess (languaging) der gemeinsamen Konstruktion von Bedeutung;
- Fokus auf Fragen der Identität („voice“) und des Selbstbewusstseins im Individuum sowie auf Fragen des Ausverhandelns von Einfluss und Macht („negotiation of power“);
- flexible, kreative Nutzung von mehr als einer Sprache (die es in mehrsprachigen Gesellschaften schon lange gibt): sie geht über die Einzelsprachen hinaus (trans-) und inkludiert alle sprachlichen Mittel im Repertoire der Lernenden.
Für die Praxis in Unterricht und Schule bedeutet das:
Im Bildungsbereich, wo es auch als pädagogisches/geplantes Translanguaging bezeichnet wird (z. B. Cenoz & Gorter; Canagarajah), bezieht Translanguaging auch mündliche Kommunikation, Wissenserwerb, akademisches Schreiben etc. mit ein. Hier verstehen wir darunter die Nutzung des gesamten sprachlichen Repertoires der Lernenden für Denk- und Lernprozesse.
Dem Südtiroler Mehrsprachencurriculum liegen folgende Praxismodelle zugrunde:
Das Curriculum Mehrsprachigkeit (CM) schlägt auf der Basis der österreichischen Lehrpläne für alle Schulstufen sprachenübergreifende, interkulturelle und metakognitive Aktivitäten vor. Das CM ist ein motivierender Leitfaden für die Vernetzung von Inhalten und die Durchführung von Projekten. Es spricht Lehrende aller Fächer, aber vor allem von Sprachenfächern, an.
Der Referenzrahmen für plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen unterscheidet grundsätzlich vier Arten:
- Der Éveil aux langues-Ansatz bezieht prinzipiell alle Sprachen und sprachlichen Varietäten ein, darunter die Schulsprachen, die Schulfremdsprachen, die Umgebungs- bzw. Herkunftssprachen. Dieser Ansatz ist eine Art Wegbereiter, der Schülerinnen und Schülern bereits am Anfang ihrer Schullaufbahn die Vielfalt der Sprachen (einschließlich ihrer eigenen) bewusst macht. Er dient zur Förderung von Sprachenbewusstheit im Hinblick auf die Förderung des Sprachenlernens allgemein. Z. B.:
- Sprachenportrait und Sprachenblume
- Die Interkomprehension zwischen nah verwandten Sprachen zielt
- entweder auf den parallelen Erwerb zweier oder mehrerer Sprachen ein und derselben Sprachenfamilie (germanische, romanische, slawische Sprachen usw.)
- oder aber auf den Erwerb einer Zielsprache unter starkem Rückgriff auf mutter-, zweit- oder fremdsprachliches Wissen in (einer) anderen (nah)verwandten Sprache(n)
Die Ähnlichkeiten innerhalb derselben Sprachenfamilie werden systematisch für den Aufbau vor allem rezeptiver Kompetenz genutzt. Z. B.:
- Der Interkulturelle Ansatz regt zum Einsatz von Strategien zur Reflexion über Kontaktsituationen an, an denen Individuen mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund beteiligt sind.
Der Begriff Kultur wird dabei als komplex, dynamisch, offen und hybrid definiert. Ziel dieses Ansatzes ist das Verstehen anderer kultureller Phänomene. z. B.:
- Die Integrative Sprachendidaktik in unterschiedlichen gelernten Sprachen möchte den Lernenden dabei helfen, Verbindungen zwischen Sprachen herzustellen – sei es, um die gleichen Kompetenzen in allen unterrichteten Sprachen aufzubauen oder um Teilkompetenzen in bestimmten Sprachen zu entwickeln.
Ihre Methodik besteht in einem sprachenübergreifenden Ansatz, der die Erstsprache und/oder andere vorgelernte Fremdsprachen und die persönlichen Sprachlernerfahrungen als Ausgangspunkt für den Erwerb einer und weiterer Sprache(n) nutzt. Sie greift dabei, soweit möglich, auf alle den Lernenden verfügbaren Sprachen und deren relevantes Vorwissen zurück. Z. B.: