Archivale des Monats

Ein Bild mit Symbolcharakter: Der Passeirer Stellwagen 1917

Sammlung Franz Haller, Nr. 296

Sammlung Franz Haller, Nr. 296

Dieses Bild, aufgenommen vor hundert Jahren, im Mai 1917, von dem Meraner Oberleutnant Franz Haller, vereinigt gleich mehrere Facetten von Merans Vergangenheit und weist zugleich voraus auf kommende Veränderungen.
Den Hintergrund des Bildes dominiert das Passeirer Tor aus dem späten Mittelalter, das die Stadt zu der wichtigen, auf den Jaufen und den Brenner ausgerichteten Route durch das Vorderpasseier öffnet. Es symbolisiert also gleichsam die ältere Geschichte der Stadt. Rechts davon ins Bild gerückt ist eine Gründerzeitvilla, die den Betrachter daran erinnert, dass Meran ab den 1850er Jahren ein international renommierter Kurort war. Ein Sinnbild der Vergangenheit ist auch die Mautstelle im Vordergrund, an der seit dem Mittelalter hier in die Stadt eingeführte Waren verzollt wurden. Zwischen dem späten 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Binnenzölle schrittweise abgeschafft und Warenzölle dementsprechend an den Landesgrenzen erhoben. Die Zollstationen an den Landstraßen dienten jetzt der Einhebung der Wegmaut für die Instandhaltung der Straßen. Nach der Hinweistafel am geöffneten Schlagbaum betrug das Weggeld für die 1917 wohl nicht mehr ganz seltenen Automobile 10 Kronen. Ironischerweise schwebt das Automobil-Zoll-Schild, das auf den nahenden Siegeszug des Autos und somit in die Zukunft verweist, direkt über dem Passeirer Stellwagen, der hier als Sinnbild des 19. Jahrhunderts gesehen werden kann.
Während Postkutschen ausschließlich Poststationen anfuhren und zudem relativ teuer waren, hielten die ab der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts teils öffentlich, teils privat betriebenen Stellwagen an zahlreichen Punkten. Die – laut zeitgenössischen Reiseberichten sehr unbequemen – Stellwagen befuhren mehrmals täglich definierte Strecken, in diesem Fall Meran–Passeier–Meran. Sie waren deutlich langsamer als die Postkutschen, aber eben auch günstiger und für viele Einheimische und Reisende die einzige Alternative zum Fußmarsch.
Auf unserem Bild sind die Passagiere des Stellwagens freilich keine Zivilisten, sondern Soldaten, sie versinnbildlichen somit eine schwierige Gegenwart, die 1917 auch Meran fest im Griff hatte: Ein Großteil der Hotels und Pensionen der Stadt war für den Fremdenverkehr geschlossen und in Lazarette umfunktioniert worden oder beherbergten Offiziere, Ärzte und Krankenschwestern. Die beiden Soldaten auf dem Passeirer Stellwagen können aber auch als ein Fingerzeig auf bevorstehende Umwälzungen gesehen werden: Nach dem verlorenen Krieg sollte das Habsburgerreich zerfallen, das südliche Tirol ein Teil des Königreiches Italien werden und wie ein großer Teil Europas in den fatalen Strudel von Faschismus und Nationalsozialismus geraten, der schließlich im Zweiten Weltkrieg mündete.
Auch die Technik und der Automobilverkehr entwickelten sich in den folgenden Jahren mit schwindelerregender Rasanz. Binnen weniger Jahre verdrängte der motorisierte Omnibus den gemächlich dahinschaukelnden Passeirer Stellwagen.

ep

PT

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