Archivale des Monats

Post für Johann Wassermann, Konditor in Niederdorf im August 1919 - „Und waren in diesem Jahre Sommergäste bei Ihnen?“

Familienarchiv und Sammlung Wassermann, Nr. 95

„… Wie sieht es denn nun im Pustertal und vor allem im lieben Niederdorf aus? Sind die Verhältnisse nun wieder ruhiger geworden? Und waren in diesem Jahre Sommergäste bei Ihnen? Im nächsten Jahre würde ich recht gerne mal wieder in die dortige Gegend kommen, einmal um Sie alle, meine lieben guten Wassermanns, mal wiederzusehen und dann, um die Erinnerungen an die unvergeßlich schönen Stunden, die vor allem Sie uns dort bereitet haben, wieder aufzufrischen.“ So schreibt ein Gast aus dem fernen Magdeburg an die Familie Johann Wassermann (1862–1939), Konditor in Niederdorf. Erinnerungen an zurückliegende, schöne Sommerferien schwingen in diesen Worten mit, die nach den Schrecken des Ersten Weltkrieges weit entfernt scheinen. „Ach, wohin ist unser einst so herrliches schönes Deutsches Vaterland gekommen,“ lamentiert der Verfasser des Briefes über das nach dem Krieg schwer angeschlagene Deutschland und dehnt seine Klage sogleich auf Südtirol aus „…und wohin ist das herrliche Deutsch-Tirol gekommen […] Niederdorf gehört nun also auch zu Italien, der Brenner ist die Grenze, welche Gefühle mögen Sie, meine liebe gute Familie Wassermann, bei diesen Gedanken bewegen?“ In der Tat mag die Annexion Südtirols an das Königreich Italien für Johann Wassermann – wie für die meisten Südtiroler – zuerst ein Schock gewesen sein, hatte doch gerade der umtriebige Niederdorfer Konditor, der ab 1902 dem Gemeindeausschuss seines Heimatortes angehörte und von 1902 bis 1906 dem „Verschönerungsverein“ als Obmann vorgestanden war, sich immer stark zu „alldeutschem“ Ideengut hingezogen gefühlt und durch seine radikalen Positionen auch eine gewisse Ausgrenzung aus der dörflichen Gemeinschaft in Kauf genommen. Doch zuallererst war Wassermann ein Unternehmer – er hatte bereits 1880 eine eigene Konditorei eröffnet und diese ab 1895 in dem von ihm erworbenen Kurz-Prunner’schen Ansitz zu einem blühenden Betrieb aufgebaut, der von Einheimischen und Gästen gleichermaßen geschätzt wurde. Obwohl Niederdorf – im Gegensatz zu Toblach, das mehrfach unter Artilleriebeschuss geriet – vom unmittelbaren Kriegsgeschehen weitgehend verschont geblieben war, so kam der Fremdenverkehr doch völlig zum Erliegen. Der Tourismus war seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ein wichtiger wirtschaftlicher Pfeiler für die Entwicklung Niederdorfs. Den Grundstein dafür hatte die weitum bekannte Schwarzadler-Wirtin Emma Hellenstainer gelegt, die zahlreiche Kundschaft aus Nah und Fern anzog. Durch die Gründung der Sektion Niederdorf des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins (später in Sektion Hochpustertal umbenannt) und durch die 1871 erfolgte Eröffnung der Pustertaler Bahnlinie erhielt der Fremdenverkehr großen Aufschwung und erreichte Ende des 19. und bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges seinen Höhepunkt. Erst ab der Mitte der 1920er Jahre erholte sich der Tourismus langsam wieder, wobei nun die italienischen Gäste klar überwogen, die die landschaftlichen Schönheiten des Pustertals für sich entdeckten. Johann Wassermann hatte sich nach Kriegsende von seinen politischen Ämtern zurückgezogen und widmete sich zusammen mit seinen Töchtern Emma und Therese dem Sammeln von Objekten und Quellen zur Niederdorfer und Pustertaler Geschichte, die nun als Teil des Familienarchivs und der Sammlung Wassermann im Südtiroler Landesarchiv verwahrt werden.

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