Archivale des Monats

August 1919 – Das Schicksal der Brennerbahn

Sammlung Oberleiter, Nr. 610/129,4_1

„Der Friedensschluß zwischen Oesterreich und den feindlichen Mächten trifft durch seine Bestimmungen über die territorialen Abgrenzungen der neuen Staatengebilde in besonders empfindlichem Maß das Netz der österreichischen Südbahn. Dabei wird in den Beziehungen zwischen Oesterreich und Italien nach Verlegung der italienischen Grenze auf die Höhe des Brenners das zukünftige Schicksal der Brenner-Bahn Innsbruck–Verona eine wichtige Rolle spielen, umso mehr, als nach einem Aufsatz im ‚Journal de Genève‘ Italien beabsichtigen soll, die Brenner-Straße und die Brenner-Bahn zur Hauptverkehrsstraße mit Deutschland auszubauen.“

Die Grenzverschiebung nach dem Weltkrieg brachte gerade für die Brennerbahn in der Tat große Veränderungen mit sich. Die Bahnverbindung über den 1370 Meter hohen Brenner war am 24. August 1867 nach dreijähriger Bauzeit eröffnet worden. Diese bereits seit der Antike genutzte wichtige Nord-Süd-Verbindung über den Alpenhauptkamm wurde durch Errichtung mehrerer Brückenkonstruktionen und Tunnelbauten für den Schienenverkehr erschlossen, wobei zeitweise bis zu 20.000 Arbeiter tätig waren. In den Anfangsjahren fuhr die von einer Dampflok gezogene Bahn mit 12,3 Stundenkilometern über den Pass, sodass die Fahrtzeit für die Strecke Innsbruck–Bozen knapp sechs Stunden betrug, die aber im Laufe der folgenden Jahrzehnte immer weiter verkürzt werden konnte. Die Betriebsführung der Bahn oblag der 1859 gegründeten k. k. privilegierten Südbahngesellschaft, die mehrere Bahnlinien in der Monarchie führte. Noch während des Baus der Brennerbahn, die bis Verona führte, fielen durch die Abtretung Venetiens im Dritten Italienischen Unabhängigkeitskrieg die südlichen Streckenteile an das Königreich Italien. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, in dem die Brennerlinie mit ihren Stichbahnen gerade für Materialnachschub und Truppentransporte eine zentrale Rolle gespielt hatte, verlor die Südbahn ein weiteres Mal große Streckenabschnitte an die Nachfolgestaaten, also nicht nur jene südlich des Brenners, sondern auch all jene in Ungarn und im SHS-Staat.

Zusätzlich zum Schienennetz übernahm Italien als Reparation österreichisches Rollmaterial und auch das vormals österreichische Betriebspersonal wurde von den Ferrovie dello Stato übernommen. Ende der 1920er Jahre wurde die Bahnstrecke elektrifiziert, doch über mehrere Jahre hinweg endete die mit Strom betriebene Linie auf österreichischer Seite auf Betreiben Italiens 1,3 Kilometer vor der Staatsgrenze, sodass eine Dampflokomotive die Züge vom Brennersee bis zur Grenze ziehen musste. Erst 1934 erlaubte Italien die Elektrifizierung bis zur Grenze, hatte jedoch für den italienischen Streckenabschnitt aus militärischen Gründen eine andere Fahrdrahtspannung gewählt. Trotzdem nahm durch leistungsstärkere Lokomotiven besonders der Güterverkehr über den Brenner deutlich zu, infolge der Weltwirtschaftskrise brach er zwar 1929 vorübergehend ein, erlebte aber Ende der 1930er Jahre und im Zweiten Weltkrieg erneut einen kräftigen Aufschwung. Nach der völligen Zerstörung der Bahnlinie in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs, wurde der Bahnbetrieb ab 1947 wieder aufgenommen, doch die große Zeit der Eisenbahn schien vorüber, die Kraftfahrzeuge liefen ihr zunehmend den Rang ab. Mit Eröffnung der Brennerautobahn 1971 begann eine Konkurrenz, die nach wie vor anhält. Viele Jahrzehnte lang schien es, als wäre der Schienenverkehr eine überholte Einrichtung, doch in Zeiten endloser Blechlawinen und chronisch überlasteter Autobahnen bietet sich die Eisenbahn als gute Alternative an. Spätestens mit der für 2028 geplanten Inbetriebnahme des Brennerbasistunnels sollte ein neues Kapitel in der Geschichte der Brennerbahn aufgeschlagen werden.

EP

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