Archivale des Monats

Allenthalben herrscht noch Mangel

Brotkarten, Kriegsteuerungszulagen und Wiener Kinder

Archiv der Etschwerke; A.V.4.9

Fehlende Nahrungsmittelreserven, das Einziehen landwirtschaftlicher Arbeiter und die Requirierung von Pferden, Ochsen und Milchkühen zur Versorgung der Streitkräfte führten in der Habsburgermonarchie schon bald nach Beginn des Weltkriegs bei der Zivilbevölkerung zu Versorgungsengpässen, die sich gegen Ende des Kriegs zu einer regelrechten Hungersnot auswuchsen, die besonders in Tirol, das auf Getreideimporte angewiesen war, zu spüren war. Im Winter 1917/18 erreichte die Krise ihren Höhepunkt, als es manchmal wochenlang kein Mehl mehr gab. Viele Lebensmittel, wie etwa Fleisch, Brot, Kartoffeln, Zucker oder Milch, waren rationiert und nur über Karten zu beziehen, die Schlangen an den Ausgabestellen waren lang und die Rationen mager. Unterernährung und eine erhöhte Anfälligkeit für Infektionskrankheiten waren die Folge.

In Südtirol kam es nach Kriegsende zu einer leichten Besserung der Versorgungslage, da das italienische Militär Lebensmittel zur Linderung der ärgsten Not verteilte; im Laufe des Jahres 1919 normalisierte sich die Situation weiter, doch noch im November 1919 wurde Brot über sogenannte Brotkarten ausgegeben, unterteilt in die Kategorien „Mindestbemittelte“, Minderbemittelte“ und „Bemittelte“, während Fleisch wieder frei verkauft werden durfte. Nach wie vor hatte ein großer Teil der Bevölkerung, zumal in den Städten, Schwierigkeiten, sich mit ausreichend Grundnahrungsmitteln oder Brennmaterial einzudecken. Gerade „kleine Leute“ hatten durch die nun wertlos gewordenen österreichischen Kriegsanleihen viel Geld verloren, dazu kam 1919 die verlustreiche Umwechslung der Kronen in Lire und eine steigende Inflationsrate. Um dem etwas gegenzusteuern, zahlten etwa die Etschwerke ihren Angestellten sogenannte „Kriegsteuerungszulagen“, die im Lauf der Monate weiter erhöht werden mussten.

Während sich in Südtirol 1919 die Grundversorgung langsam besserte, wohl auch weil Italien die Ausfuhr von Hülsenfrüchten, Reis, Ölen und Fetten verboten hatte und am 25. November 1919 vom General-Zivilkommissar außerdem ein Ausfuhrverbot von Brennholz aus Südtirol erlassen wurde, war die Situation in Nordtirol und anderen Teilen Österreichs dramatisch. In Innsbruck gab es nach Kriegsende kein Mehl, keine Kartoffeln, keine Milch mehr. Die Versorgungslage war das ganze Jahr 1919 über so schlecht, dass es immer wieder zu Hungerkrawallen kam.

Auch in Wien herrschte erheblicher Mangel, die Kinder waren so stark unterernährt, dass ein internationales Hilfsprojekt ihre wochenweise Verschickung in die Schweiz, Italien und Süddeutschland organisierte. Auch in Südtirol war die Hilfsbereitschaft nach einem ersten Aufruf in den lokalen Zeitungen in der zweiten Novemberhälfte groß: Viele erklärten sich bereit, ein Kind aufzunehmen, andere gaben Geldspenden. Am 10. Dezember 1919 kamen denn auch die ersten 600 Wiener Kinder in Bozen an, wo sie von den Damen des Bozner Hilfskomitees mit Gebäck empfangen wurden. Dann wurden sie auf ihre Gastfamilien in verschiedenen Ortschaften des Landes verteilt.

EP

Bildergalerie