Archivale des Monats

"Die muthmasslich wahrste Geschichte"

Ein Bericht über die Tragödie von Mayerling (1889) in einem Brief nach Branzoll

Archiv Ferrari-Branzoll, Nr. 190

Der aus einer adeligen, seit 1824 in Branzoll ansässigen Familie stammende Thomas von Ferrari stand von 1879 bis 1900 im Dienst der k. u. k. Kriegsmarine und war - zuletzt als Korvettenkapitän - im Seearsenal in Pula im heutigen Kroatien stationiert. Den Kontakt zu seiner Familie in der Heimat hielt er vor allem mit Briefen aufrecht. Dass diese Möglichkeit der Kommunikation intensiv benutzt wurde, zeigt die umfangreiche Familienkorrespondenz im Familienarchiv "Ferrari-Branzoll".
Am 11. Februar 1889 schreibt Thomas von Ferrari seinen Eltern Eugen von Ferrari und Barbara Rudhart von der "muthmasslich wahrsten Geschichte", einem Ereignis, das Österreich-Ungarn in seinen Grundfesten erschütterte und weltweit für Aufsehen sorgte. In der Nacht auf den 30. Januar 1889 hatte Kronprinz Rudolf, der Sohn von Kaiser Franz Josef I. von Österreich und von Kaiserin Elisabeth ("Sissy"), in seinem Jagdschloss Mayerling bei Alland in Niederösterreich zunächst die 17jährige Baroness Mary Vetsera erschossen und dann sich selbst. Der mit Stephanie von Belgien unglücklich verheiratete Kronprinz hatte mit der Baroness, die er seit ungefähr einem Jahr kannte, eine Affäre. Die genauen Umstände dieses Ereignisses, das als Tragödie von Mayerling in die Geschichte einging, konnten niemals geklärt werden. Der Wiener Hof versuchte, aufgrund der Brisanz des Geschehenen Fakten zu unterschlagen und streute bewusst Falschmeldungen. Um dem verstorbenen Kronprinzen ein christliches Begräbnis zu ermöglichen, lautete die offizielle Verkündigung der Todesursache Selbstmord "in einem Zustand der Geistesverwirrung". Das Schicksal der Baroness hingegen wurde verschwiegen. Ihr Leichnam wurde - aufrecht sitzend in einem Fiaker - heimlich nach Heiligkreuz im Bezirk Baden bei Wien gebracht, einer Obduktion unterzogen und schließlich im dortigen Friedhof in aller Stille beerdigt.
In seinem Brief deutet Thomas von Ferrari die Tat, freilich ohne Angabe einer Quelle für seine Informationen, als Folge des gescheiterten Versuchs des Kronprinzen, sich von Stephanie scheiden zu lassen. Die Bekanntschaft mit der Baroness, die "schön, ja ideal schön" gewesen sein soll, habe die Kluft zur Kronprinzessin erweitert. Den Tatvorgang beschreibt er im Gegensatz zur offiziellen Version unumwunden als Mord und Selbstmord. Darüber hinaus finden sich im Brief einige interessante Details, wie zum Beispiel der Hinweis auf ein Gesuch Rudolfs um Vermittlung durch den Papst im Versuch, die Scheidung von Stephanie zu erreichen, aber auch die These, wonach sich die (schwangere) Baroness im Gefühl der Aussichtslosigkeit zunächst vergiftet habe, worauf sich der Kronprinz gezwungen sah, sie zu erschießen, um ihr einen qualvolleren Tod zu ersparen. Diese Informationen findet man in den gängigen Darstellungen der Ereignisse von Mayerling nicht. Bemerkenswert ist zudem die Erwähnung von einigen der zahlreichen, unmittelbar nach der Tat in Umlauf gekommenen "Lügengewebe": Rudolf als Opfer eines eifersüchtigen Försters, sein Tod als Folge einer Auseinandersetzung mit Familienangehörigen von Mary Vetsera (Baltazzi) oder als tragischer Ausgang eines amerikanischen Duells, zu dem Rudolf von der Familie der Prinzessin Aglaia von Auersperg, die von ihm schwanger gewesen sein soll, gezwungen wurde. Diese Gerüchte und noch andere kursierten in der damaligen Presselandschaft auch auf internationaler Ebene.
Die Überführung des Leichnams Rudolfs in die Kapuzinergruft, der Begräbnisstätte der Habsburger in Wien, erlebte Thomas von Ferrari am 5. Februar 1889 als Augenzeuge, da seine Einheit "in Galla als Deputation" am Neuen Markt aufgestellt war. Er zeigt sich beeindruckt von der "eigenthümlichen und geräuschlosen" Atmosphäre, protokolliert einerseits die Anwesenheit verschiedener Trauergäste (namentlich erwähnt werden der ungarische Ministerpräsident Kálmán Tisza und Géza Baron Fejérváry), andererseits die Abwesenheit bzw. Nicht-Sichtbarkeit des Kaisers. Er schildert das Verhalten der anwesenden Menschenmenge und beobachtet mit spöttischem Unterton die Anstrengungen der zahlreichen Berichterstatter.
Der wortreichen Abhandlung zum Schicksal des Kronprinzen Rudolf folgt ein Bericht über den Besuch Thomas' bei der Familie eines nicht identifizierbaren Dr. Adam in Wien, im Schlussteil erfolgt noch die kurze, fast nur mehr stichwortartig formulierte Übermittlung einiger persönlicher Informationen.

ht

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