Autonome Provinz Bozen - Südtirol | |
19. Amt für Arbeit |
B. DIE
ERSTELLUNG UND VERWENDUNG EINER BEDARFSPROGNOSE
Bei der Erstellung und bei der Verwendung einer Bedarfsprognose
entstehen eine Reihe von grundsätzlichen Problemen, die im
folgenden Teil I zusammengefaßt werden. Im Teil II sollen die
konkreten Probleme der Bedarfsprognose für Südtirol im
einzelnen ausgeführt werden.
I. Grundsätzliche Probleme
Wird eine Bedarfsprognose für die Ausrichtung der
Bildungspolitik benötigt, so wird sie auf einen langfristigen
Zeitraum erstellt werden müssen, je länger der Zeitraum, desto
schwieriger die Vorhersehbarkeit. Die Bildungspolitik muß heute
schon die Weichen für das nächste Jahrtausend stellen, weil
Änderungen des Bildungs-Systems längere Zeit benötigen.
Grundlegende Reformen im Bildungswesen müssen zuerst die Zeit
berücksichtigen, in der im Bildungssystem selbst Humankapital
gebildet wird, z.B. die Ausbildung der Lehrer/innen für neue
Fächer. Dann verstreicht eine gewisse Zeit, bis nach der
Änderung des Systems der Durchlauf durch das neue Bildungssystem
stattgefunden hat. Eine verwendbare Prognose müßte daher einen
Zeitraum von mindestens 10 Jahren umfassen.
Die Bedarfsprognose für die Arbeitsmarktpolitik, die kurzfristig
eingreifen kann, ist vor allem von der Konjunkturentwicklung und
-prognose abhängig, für die wieder eine Prognose der
Konjunkturpolitik notwendig wäre.
Die Vorhersehbarkeit ist insbesondere bei der
Einschätzung der zukünftigen Wirtschaftsstruktur und der
Produktivität schon logisch unmöglich, sie wäre eine
"Anmaßung von Wissen" (F.A.v.Hayek). Die die
zukünftige Struktur bestimmenden Faktoren, insbesondere die
Innovationen, aber auch wirtschaftspolitische Maßnahmen und
weltwirtschaftliche Entwicklungen, können heute gar nicht
bekannt sein. Wären Innovationen schon heute bekannt, dann
wären es keine Innovationen mehr.
Eine Trendfortschreibung als Prognose leidet daran, daß
vergangene, z.T. kurzfristige Entwicklungen längerfristig
fortgeschrieben werden. Außerdem sind in der Vergangenheit
wirtschaftspolitische Maßnahmen erfolgt, z.T. auch zum Ausgleich
von Angebot und Nachfrage am Arbeitsmarkt, deren Wirksamkeit in
die Zukunft fortgeschrieben wird. Es müßte also für die
Zukunft das Weiterbestehen der Ausgleichsmechanismen in der
bisherigen Ausgestaltung vorhergesagt werden. Diese "Status
quo"-Prognose der Wirtschaftspolitik übersieht aber den
Lernprozeß: durch die bisherige Entwicklung und die vergangene
Wirtschaftspolitik hat sich eine Änderung des Verhaltens der am
Arbeitsmarkt Handelnden, und auch der den Arbeitsmarkt
beeinflussenden Politiker ergeben, die zu neuen Maßnahmen
führen werden. Außerdem sind in der Vergangenheit Maßnahmen
beschlossen worden, wie z.B. Integrationsschritte für den
Arbeitsmarkt, deren Auswirkungen noch nicht wirksam geworden
sind, aber in Zukunft wirksam werden.
Für die Vergangenheit ist selbst die Höhe der Arbeitslosigkeit
schwer feststellbar: wie hoch ist die versteckte Arbeitslosigkeit,
die als Arbeitskräftereservoir angesehen werden kann? z.B. in
der Form von Tätigkeiten in weniger qualifizierten Stellen oder
in Form von vorzeitigem Pensionsantritt (sowohl in Österreich
wie in Italien wohl ziemlich bedeutend).
Die Gegenüberstellung der unabhängig voneinander erstellten
Prognosen des Gesamt-Angebots und der Nachfrage kann ungedeckte
Salden ergeben, die eine Erhöhung oder Verringerung der
Arbeitslosigkeit insgesamt oder in einzelnen Bereichen bewirken
könnten. Welche Prozesse die prognostizierten Salden zum
Ausgleich bringen, kann also nicht exakt prognostiziert werden:
werden es Marktprozesse sein, wie z.B. Arbeitskräftewanderungen
oder Lohnniveau- und Lohnstrukturänderungen? wie hoch wird die
Flexibilität des Lohnniveaus und der Lohnstruktur sein, wie hoch
die Mobilität und damit auch die internationale
Arbeitskräftewanderung ?
In der Vergangenheit hat sich auch die in dem Modell angenommen Zuordnung
von Ausbildung und Beruf nicht als eindeutig und dauerhaft
erwiesen. Das Beschäftigungssystem kann elastisch auf
Änderungen des Bildungssystems reagieren, es ist also kein
autonomer Bestimmungsfaktor. Gibt es z.B. ein größeres Angebot
an Hochschul-Absolventen, so werden u.U. die formalen
Eingangsvoraussetzungen für bestimmte Berufe erhöht und damit
die bisherigen niedriger qualifzierten verdrängt. Dies kann in
Österreich z.B. im Bereich der an der Universität ausgebildeten
Betriebswirte erkannt werden, die teilweise Handelsakademiker
verdrängen. In manchen Fällen hat sich aber auch gezeigt, daß
bei einem höheren Angebot an qualifizierten Ausgebildeten auch
neue hochqualifziertere Arbeitsplätze geschaffen worden sind,
die diesen prognostizierten "Überschuß" absorbierten.
Deshalb wendet sich der Nachfrage-Ansatz (social
demand approach) gegen die Überbetonung der Autonomie des
Beschäftigungssystems. Er geht vom freien Wahlrecht für Bildung
aus und betont den Eigenwert der Bildung (als Konsumgut). Dieser
Ansatz übersieht aber wieder, daß eine vollkommen freie Wahl
der Berufsbildung ohne Berücksichtigung der Berufschancen zu
großen Ungleichgewichten führen kann, wenn deutlich erkennbare
Tendenzen des Bedarfs nicht berücksichtigt werden. Beide
Ansätze müssen also die Koppelung zwischen dem Bildungs- und
Beschäftigungssystem berücksichtigen.
Auf lange Frist wird man mit einer ausreichenden Mobilität
und flexiblen Löhnen und Preisen rechnen können, die
Ungleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage anpassen werden.
Kurzfristig kann es jedoch zu Arbeitslosigkeit oder Knappheit an
bestimmten Berufen, in bestimmten Sektoren oder Orten kommen.
Aus den Schwierigkeiten bei der Prognose des Arbeitsmarktes, wie
sie sich bei der fast unvorhersehbaren Entwicklung der letzten
Jahre zeigte, läßt sich die Bedeutung der Mobilität und Flexibilität
für den Arbeitsmarkt ableiten. Die Anpassung an neue
Entwicklungen muß sowohl durch berufliche, geographische und
betriebliche Mobilität unterstützt werden und auch bei der
Ausbildung berücksichtigt werden.
Für die Steuerung des Ausbildungssystems sollten möglichst
marktwirtschaftliche Instrumente eingesetzt werden, die eine
raschere und effizientere Anpassung als staatliche Regulierungen
erlauben. Staatliche Regulierungen besitzen in ihrem
Steuerungssystem nicht genügend Anreize, um flexibel auf neue
Entwicklungen reagieren zu können. Die Effizienz von
Bildungsausgaben ist schwer feststellbar - was auch für manche
andere Bereiche der öffentlichen Ausgaben gilt.
II. Einzelne Probleme einer Bedarfsprognose für Südtirol
1. Kurzfristige Bedarfsschätzungen, Konjunkturprognosen
Für kürzere Zeitspannen (ca. 5 Jahre) sind keine
grundsätzliche Änderung der Angebots- und Nachfrage-Struktur
anzunehmen. Dagegen kann es zu vorübergehenden
Konjunkturschwankungen kommen, in denen konjunkturelle
Arbeitslosigkeit in konjunkturempfindlichen Bereichen
(Investitionsgüterindustrie, Bau-, Grundstoff-, Export- und
importkonkurrierende Industrie) auftreten kann. Zu deren
Bewältigung ist z.T. das konjunkturpolitische Instrumentarium
(Währungs-, Geld-, Fiskal- und Einkommenspolitik) und z.T. das
arbeitsmarktpolitische Instrumentarium vorhanden.
Die kurzfristige Prognose für die nächsten Jahre kann aus den
verschiedenen Konjunkturprognosen (OECD, nationale und regionale
Prognosen etc.) übernommen werden, deren Verläßlichkeit
besonders bei den Prognosen der Wendepunkte beschränkt ist. Im
Moment allerdings kann die Prognose-Verläßlichkeit für das
Jahr 1995 und 1996 als relativ hoch angesehen werden. Durch die
Anpassung des Wechselkurses der Lira ist nämlich zusätzlich zum
internationalen Konjunkturaufschwung ein Auftriebsfaktor
entstanden, der mit einiger Sicherheit noch bis zu etwa ein Jahr
wirksam bleiben wird. Vom Außenhandel einschließlich des
Tourismus ist der Aufschwung allmählich in eine sich selbst
tragende interne Nachfrage-Ausweitung übergangen.
Auf dem Arbeitsmarkt war diese Entwicklung schon früh in der
Zunahme der Überstunden und Abbau der Kurzarbeit
(Lohnausgleichskasse) zu erkennen, die - wie üblich - der erste
Puffer bei einer Nachfrageausweitung darstellen, wenn die
Unternehmen noch keine neuen Arbeitskräfte einstellen möchten,
solange die zukünftige Nachfrage-Entwicklung noch zu unsicher
ist. Dazu kommt, daß in der konjunkturschwachen Zeit ein Teil
des Verwaltungspersonals nicht voll ausgelastet war. Auch die
Produktivitätssteigerung, die durch die Ausnützung der
Fixkostendegression entsteht, bringt im Beginn des Aufschwungs
noch keine so starke Abnahme der Arbeitslosigkeit wie die
Produktion zunimmt (Okun'sches Gesetz). Dies trifft besonders die
Arbeitslosigkeit der Jugendlichen, denn zuerst werden im
Aufschwung die Arbeitslosen eingestellt, die die entsprechende
Ausbildung und Erfahrung haben oder diejenigen, die in der
Arbeitskraftreserve "versteckt" sind. Deshalb kann
damit gerechnet werden, daß in Italien auch die bisher noch
steigende Jugend-Arbeitslosenrate wieder sinken wird. Für
Südtirol ist allerdings die Jugendarbeitslosigkeit seit jeher
kein so gravierendes Problem wie in Italien (insbesondere im
Süden mit 56% Jugendarbeitslosigkeit), was bekanntlich zum
größten Teil dem dualen Ausbildungssystem Südtirols zu
verdanken ist.
Allerdings ist in diesem üblichen Konjunkturverlauf schon der
Faktor sichtbar, der den Aufschwung einbremsen wird. Die zu
erwartende Wechselkurs- und Preisniveausteigerung, die letztlich
das italienische Preisniveau wieder in eine dauerhafte Relation
zu den ausländischen Preisen und damit den Ausgleich der
Wettbewerbsverhältnisse bringen wird, zeigt sich schon deutlich.
Wie auch in den bisherigen Konjunkturzyklen, ist Südtirol als
stark außenhandelsabhängige Provinz wieder früher und stärker
von diesen Entwicklungen bei Produktion, Arbeitsmarkt und
Inflation betroffen als Italien. Außerdem reagiert die
internationale touristische Nachfrage, die für Südtirol eine
größere Bedeutung besitzt als für Italien, wie üblich rascher
und teilweise auch stärker auf Wechselkursänderungen als der
Außenhandel.
Die derzeitig günstige konjunkturelle Situation darf aber nicht
darüber hinwegtäuschen, daß es sich dabei um keine dauerhafte
Belebung handelt, sondern nur um eine vorübergehende. Derartige
Situationen sind schon in der Vergangenheit immer wieder
aufgetreten und haben zu Konjunktur-Überhitzungen in Südtirol
geführt, wie z.B. 1979/80, die dann der Anlaß waren,
konjunkturdämpfende Maßnahmen wie den LEP zu beschließen.
Immerhin läßt sich erwarten, daß es nicht mehr zu einer
derartig starken Überhitzung kommen wird, weil die Geldpolitik
infolge der größeren Unabhängigkeit der Banca d'Italia und
damit ihrer stärkeren Ausrichtung auf Kurs- und
Preisniveaustabilität rechtzeitiger eingreifen wird. Zeitpunkt
und Umfang der geldpolitischen Maßnahmen lassen sich aber
naturgemäß nicht genau vorhersagen.
Während die Geld- und Konjunkturpolitik zu den kurzfristig
wirkenden Faktoren gezählt werden kann, ist der Zustand der
italienischen öffentlichen Finanzen ein Problem, das sowohl
kurz- wie langfristig die weitere Entwicklung Italiens und damit
auch des Südtiroler Arbeitsmarktes entscheidend mitbestimmen
wird.
Welche Einflüsse der Budgetpolitik auf den Arbeitsmarkt ausgehen
werden, wird einerseits vom Tempo und andererseits von der
Struktur der Budgetsanierungsmaßnahmen abhängen. Dabei wird man
sich bei einer Prognose nicht auf die von der Regierung
bekanntgegebenen Sanierungspläne und -schritte verlassen
können, weil dazu die parlamentarische Zustimmung noch nicht
sicher ist.
Sollte das Budgetdefizit und der Schuldenstand bis 1998
tatsächlich an die Maastricht-Konvergenz-Kriterien von 3% des
Brutto-Nationaleinkommens (derzeit ca. 8%) bzw. 60% (ca. 125%)
herangeführt werden sollen, so müßte mit einem starken
Konjunkturrückschlag und Arbeitslosigkeit in vielen betroffenen
Bereichen gerechnet werden, weil Löhne, Preise und Produktion
keinesfalls flexibel genug an diese radikalen Änderungen
angepaßt werden können. Ein radikaler Abbau des Schuldenstandes
um mehr als 60% in 4 Jahren würde ja bedeuten, daß in jedem
Jahr ein Budgetüberschuß von fast 15 % erzielt werden müßte,
anstelle des heutigen Defizits von 8%.
Immerhin ließe sich ein zweites Szenario vorstellen, das beim
Budgetdefizit durch ein hohes Volumen an Privatisierungen und
Einnahmenerhöhungen das Ausmaß der Ausgabenkürzungen geringer
hält. Dabei könnte auch der Effekt wirken, der bei einer
Geldwertstabilisierung nach mehreren Jahren eintritt: da sich das
Vertrauen in die Währung langsam wiederherstellt, sinken die
realen Zinsen (die derzeit in Italien noch relativ hoch sind), so
daß sich die Zinslast im Budget verringert. Mehr als das gesamte
Budgetdefizit ist derzeit für die Finanzierung der Zinszahlungen
notwendig. Beim Schuldenstand könnte durch die längerfristig
wirksamen Maßnahmen der nun beschlossenen Pensionsreform und
Anwendung der Klausel des Maastricht-Vertrags, daß eine
glaubwürdige Entwicklung zum Kriterium von 60% hin als
ausreichend angesehen wird, der Eintritt in die Währungsunion
akzeptiert werden. Eventuell könnte eine Vereinbarung über die
Gestaltung der italienischen Geldpolitik bis zu einem späteren,
schon festgelegtem Eintritt in die Währungsunion, abgeschlossen
werden, die sofort den Eintritt in eine Wechselkursunion erlauben
würde.
In diesem zweiten Szenario könnte es sowohl durch die
Privatisierungen wie durch Einnahmenerhöhungen und
Ausgabenkürzungen zu Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt kommen,
weil auch in diesem Fall nicht mit einer ausreichenden
Flexibiltät der Löhne und Preise und/oder Mobilität der
Arbeitskräfte gerechnet werden kann. Allerdings wird diese
Flexibilität auch von der Geschwindigkeit der Budgetanpassung
abhängen. Wenn auch die Bereiche, auf denen es zu diesen
Schwierigkeiten kommen könnte, nicht im vorhinein identifiziert
werden können, lassen sich doch aus der Erfahrung einige
Feststellungen für Südtirol treffen:
a) daß Investitionsgüterindustrien im allgemeinen von solchen
Strukturumschichtungen stärker getroffen werden als die
Konsumgüterindustrien und daß daher Südtirol mit einem
geringen Investitionsgüteranteil weniger betroffen sein müßte.
b) kann die privatwirtschaftliche klein- und mittelbetriebliche
Struktur Südtirols flexibler auf Änderungen reagieren als
staatliche und große Betriebe. Das gilt sowohl für
Produktionsentscheidungen wie für Lohnanpassungen, die in
kleinen Betrieben relativ leicht möglich sind. Insbesondere im
Tourismusbereich sind die Anpassungen durch
Einkommensschwankungen der relativ großen Zahl an Selbständigen
und mithelfenden Familienangehörigen sowie der Anpassungen der
Zusatzverdienste der Unselbständigen (Trinkgeld, Überstunden
usw.) möglich.
c) Außerdem wird, solange der Wechselkurs noch flexibel gehalten
wird und nicht wieder ein Eintritt in das EWS mit allmählich zu
hohem Kurs versucht wird, die Konkurrenzfähigkeit Italiens
erhalten bleiben. Damit würde sich aber auch Südtirol, das -
wie erwähnt - viel mehr als andere Provinzen
außenwirtschaftsabhängig ist, weniger von den internen
Maßnahmen getroffen werden.
Auf der anderen Seite ist die Gefahr vorhanden, dass die
notwendigen Budgetkürzungs-Massnahmen sich auf die Ausgaben des
Südtiroler Landeshaushalts, der den grössten Teil der Einnahmen
aus staatlichen Überweisungen erhält, besonders stark
auswirken. (Diese Kürzung könnte auch indirekt dadurch
erfolgen, dass Südtirol mehr Kompetenzen, aber nicht
entsprechend mehr Budgetmittel erhält). In diesem Fall würden
die Ausgaben des Landes gekürzt werden müssen und könnten
dadurch vorübergehend negative Wirkungen auf den Arbeitsmarkt
auslösen. Das wäre vor allem bei den jetzigen Subventionen der
Fall, von denen bisher einige auch nicht EU-konform waren.
Die voraussichtlichen Auswirkungen der Budgetsanierungsmaßnahmen
auf die Arbeitsmarkt-Angebotsseite sollen hier nur erwähnt
werden: die Pensionsregelungen setzten das Pensionsalter hinauf,
so daß das Angebot an älteren Arbeitnehmern steigen wird. Da
demographisch aber eher mit einem Rückgang des Angebots zu
rechnen wäre, und die durch die längere Arbeitszeit bewirkte
Budgetentlastung Nachfrageeffekte bringen wird, kann diese
Pensionsregelung auch positive Effekte auf den Arbeitsmarkt
haben.
2. Schätzungen der längerfristigen Angebotsentwicklung
Für die Angebotsentwicklung ist zwar in der zitierten Studie
aufgrund einer Bevölkerungsprognose mit Hilfe der Geburts-,
Sterbewahrscheinlichkeiten und Wanderungssalden des Jahres 1988
das Erwerbstätigenpotential bis zum Jahr 2050 geschätzt worden
(S. 219ff). Jedoch wird mit Recht darauf hingewiesen, daß nur
bei den Sterbewahrscheinlichkeiten mit keiner großen Änderung
zu rechnen ist. Da die Schätzung für die gesamte Periode ab
2000 zu einem Bevölkerungsrückgang führt, der insbesondere ab
2020 ein dramatisches Absinken der Südtiroler Gesamtbevölkerung
und der Erwerbspersonen ergibt (ca. - 30%), kann angenommen
werden, daß in diesem Fall die Bevölkerungspolitik,
insbesondere die Familienpolitik, versuchen wird, die
Geburtenziffern zu heben, falls sich nicht aufgrund neuer, noch
nicht abzusehender Faktoren ohnehin eine Änderung der
Geburtenwahrscheinlichkeiten ergibt.
Eine weitere Schwachstelle für Angebots- und auch
Bedarfsprognosen sind die Wanderungen. Sie haben zwar bisher für
Südtirol keine große Rolle gespielt, doch ist anzunehmen, daß
bei der prognostizierten drastischen Abnahme des
Arbeitskräftepotentials eine Sogwirkung auf Einwanderung
entstehen kann, die angesichts der Freiheit der
Arbeitskräftewanderungen in der Europäischen Union nicht
beschränkt werden kann und in der Zukunft u.U. durch den
Beitritt der mitteleuropäischen Staaten und die zukünftige
Einwanderungspolitik der EU gegenüber Drittländern noch
verstärkt werden könnte. Außerdem wirken sich auf den
Wanderungs-Saldo alle Ungleichgewichte zwischen Angebot und
Nachfrage in sämtlichen Ländern mit einem freien Arbeitsmarkt
in der EU aus. Das Argument, bisher wären die Wanderungen in der
EU gering gewesen und daher auch in Zukunft kein großes Ausmaß
zu erwarten, ist nicht unbedingt stichhältig: Bis vor kurzem gab
es noch Übergangsbestimmungen, die die Mobilität der
südländischen Arbeitskräfte einschränkten. Mit der größeren
Freizügigkeit von Unternehmens-Niederlassungen (die u.U. ihren
Arbeitnehmerbedarf aus ihrem Ursprungsland decken) und der
Ausnützung der Dienstleistungsfreiheit kann es zu immer
größeren Wanderungen bzw. Mobilität kommen. Dabei wird auch
die Fassung der Entsende-Richtlinie der EU von großer Bedeutung
werden und sicherlich über die bisherige Begrenzung auf die
Bauwirtschaft hinausgehen. Schließlich wird die vor kurzem
erfolgte Zulassung von privaten Arbeits- und
Leiharbeits-Vermittlungs-Unternehmen in der EU für eine
größere Mobilität sorgen.
Gegen eine Vergrößerung der Wanderungsbewegungen spricht, daß
die größere Freizügigkeit des Waren- und Kapitalverkehrs
Arbeitskräftewanderung ersetzen kann und daß bisher in Ländern
wie Italien, in denen es große Einkommensunterschiede zwischen
einzelnen Regionen gibt, auch keine starken Wanderungsströme
entstanden sind.
Für Südtirol könnte auch seine besondere Stellung als
zweisprachiges Land das Ausmaß der Wanderungen in bestimmten
Bereichen beschränken. Überall dort, wo - meist bei
höherqualifizierten Beschäftigten - Zweisprachigkeit notwendig
ist, wird eine Wanderung auf sehr große Hindernisse stoßen.
Selbst bei manchen weniger qualifizierten Arbeiten, wie z.B. in
den Dienstleistungsbereichen Tourismus und Handel, die einen
unmittelbaren sprachlichen Kontakt mit dem Kunden erfordern, ist
im allgemeinen Zweisprachigkeit notwendig.
Wenn somit die Wanderung in Südtirol auf Hindernisse stößt, so
bleibt als Ausgleichsmechanismus bei Ungleichgewichten am
Arbeitsmarkt die Lohnänderung. Sie kann somit in Südtirol von
der italienischen und europäischen überall dort abweichen, wo
Zweisprachigkeit von Wichtigkeit ist. In den anderen Bereichen
wird durch die Wanderung eine Tendenz zum Ausgleich hergestellt
werden können.
3. Prognosen für Wirtschaftsstruktur und Produktivität
Größtes Problem für eine langfristige Bedarfsprognose ist die
Schätzung der zukünftigen Entwicklung der Wirtschaftsstruktur
und der Produktivität. Kurzfristige Entwicklungen in der
Wirtschaftsstruktur sind stark von konjunkturellen Schwankungen
geprägt, die keinen Anhaltspunkt über langfristige
Entwicklungen erlauben. Eine Prognose der längerfristigen
Entwicklung der Wirtschaftsstruktur und der Produktivität (über
5 Jahre hinaus) kann aber - wie bereits ausgeführt - nicht mit
einem ausreichenden Maß an Sicherheit gegeben werden.
Die Schätzung der Wirtschaftsstruktur (und der Produktivität)
müßte angesichts der immer stärker werdenden internationalen
Verflechtung die Entwicklung der gesamten Welt einbeziehen. Wie
rasch sich unvorhergesehene grundsätzliche Änderungen ergeben
können, war gerade in den letzten Jahren deutlich sichtbar: der
Zusammenbruch des Sozialismus, die damit zusammenhängende
Wiedervereinigung Deutschlands, die durch die Wiedervereinigung
und den Maastricht-Vertrag ausgelösten Währungsturbulenzen und
das rasche Wachstum der ostasiatischen Märkte haben zu
vollkommen unvorhersehbaren Entwicklungen geführt. Für die
nächsten Jahre stehen im Moment die Probleme der Bildung der
Europäischen Wechselkurs- und Währungsunion, die längst
überfällige Neugestaltung der Agrarpolitik der EU durch das
neue GATT/WTO-Abkommen, der Aufschwung nach den
Transformationskrisen in den mittel- und osteuropäischen
Ländern, das Ende der Transformationskrise in den GUS-Staaten,
das Entstehen neuer Wachstumspole in Ostasien und die notwendige
Verringerung des CO2-Ausstosses und andere
Umweltprobleme im Vordergrund, ohne daß diese voraussichtlichen
Entwicklungen schon quantifiziert werden können. Noch weniger
kann die Auswirkung dieser globalen Entwicklungen auf einzelne
Branchen abgeschätzt werden.
4. Probleme bei Trendfortschreibungen
Wollte man die Entwicklung der letzten Jahre fortschreiben, wie
es die zitierte Schätzung des Arbeitsangebots für Südtirol
versucht, kann es leicht zu Fehlschlüssen kommen. Ein Beispiel
für die längerfristige Trend-Fortschreibung aufgrund von
kurzfristigen Entwicklungen wurde vor einigen Jahren in
Österreich vorgeführt: Schreibt man den Trend der am raschesten
wachsenden Beschäftigungsgruppe, nämlich des
Gesundheitsbereiches, immer weiter fort, so würden im Jahr 2040
die gesamten Unselbständigen Österreichs in diesem Bereich
arbeiten. Die Unsinnigkeit dieser Prognose liess sich aber schon
dadurch verdeutlichen, daß eine Fortschreibung der Entwicklung
des Krankenpflege-Personalstandes schon im Jahr 2030 alle
Erwerbstätige Österreichs erfordert hätte, sodaß für den
übrigen Gesundheitsbereich (wie auch für alle anderen
Tätigkeiten) kein Personal mehr vorhanden gewesen wäre !
Für die Entwicklung der Südtiroler Wirtschaft ist zu bedenken,
daß durch ihre grössere Abhängigkeit von ausländischen
Entwicklungen (relativ zu Gesamtitalien, insbesondere
Süditaliens, das wenig auslandsabhängig ist) und die
(verfehlte) Wechselkurspolitik Italiens sich die
Wechselkurs-Instabilitäten stark auswirkten. Die jahrelange
Überbewertung der Lira hat die Südtiroler Wirtschaft längere
Zeit geschädigt, während - wie erwähnt - die folgende starke
Abwertung jetzt eine vorübergehenden Boom einschliesslich der
Arbeitskräftenachfrage ausgelöst hat. Viele von den derzeit
beobachteten Entwicklungen auch auf dem Arbeitsmarkt sind also
vorübergehender Natur.
5. Anpassungsprozesse auf dem Arbeitsmarkt
Einiges deutet - wie bereits erwähnt - darauf hin, daß
zukünftig vermehrt Wanderungen lokale Ungleichheiten am
Arbeitsmarkt ausgleichen werden, jedoch im Bereich der
Zweisprachigkeit in Südtirol Hemmnisse dafür bestehen.
Besteht in Südtirol in einem Arbeitsmarkt-Bereich, der durch die
Zweisprachigkeit segmentiert ist, ein Nachfrage-Überschuss, so
wird der Lohn relativ zu den italienischen oder EU - Löhnen
steigen können, weil wenig Wanderungen erfolgen werden.
Umgekehrt muss nicht das gleiche gelten: Bei einem Überangebot
am Arbeitsmarkt in Südtirol könnte der dadurch tendenziell
entstehende Lohndruck Südtiroler Arbeitnehmer zur Abwanderung
bewegen, weil sie sowohl im italienischen wie im
deutschsprachigen Raum arbeiten können. Es bleibt auch offen,
wie gross die Lohnflexibilität ist und wieweit die Löhne in
Südtirol aufgrund des Tarifvertragsrechts von der italienischen
Entwicklung abweichen können.
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